Kraft-RobertPredigt  anläßlich unserer Mitgliederversammlung am 8. Oktober 2011 in Nürnberg.

 

Meine heutige Predigt stelle ich unter den Spannungsbogen zweier Bibelworte: „Gedenke der vorigen Zeit" (5. Mose 32,7) und „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes" (Lukas 9,62)

 

Liebe Gemeinde!

Es ist für mich eine besondere Ehre und Freude, dass ich heute als Nicht-Siebenbürger beim einem Heimattreffen der Nord-Siebenbürger aus dem Nösnerland die Predigt halten darf. Diese Ausnahme geschieht zum ersten Mal. Bisher war es den Pfarrern aus Bistritz vorbehalten.

 

Ich bin zwar kein Pfarrer aus Bistritz, aber ich war zwei Mal als Pfarrer in Bistritz. Darauf gehe ich nachher in meinem Vortrag ein. Zudem habe ich die Bistritzer Mitarbeiterin der Siebenbürgischen Zeitung, Inge Erika Roth, geb. Hoos, in Tracht getraut. Sie ist heute auch hier. Abgesehen davon arbeite ich in meiner oberhessischen Heimat mit den dortigen Heimatvereinigungen, Trachten- und Volkstanzgruppen zusammen.

 

Diese Traditionspflege verbindet mich enger mit Ihnen als man es annimmt. Warum sie bei uns und bei Ihnen überhaupt geschieht? Die Antwort gibt das Bibelwort, worüber ich heute predige:

 

„Gedenke der vorigen Zeit!"

Es stand früher in großen Buchstaben an der Wand meiner dortigen Heimatkirche. Inzwischen ist es überstrichen worden. Die es damals hinschrieben, waren der Meinung, es sei wichtig. Die es überstrichen haben, meinten, es sei unwichtig.

 

Unsere Sprache verrät uns dabei. Die einen sagen: „Alt hält am längsten!" Die anderen: "Hört auf mit dem alten Zeug!" Doch ein gängiges Wort hieß und heißt: „Vergiss nicht, wo du her kommst!" Das legte mir meine Tante Marie ans Herz, als sie zu meinem 50. Geburtstag in meinen Dienstort nach Nieder-Olm in Rheinhessen kam und mir die von ihr selbstgefertigte Trachtenpuppe schenkte.

 

Seltsamerweise gab es dort keine Trachten außer denen – man höre und staune! – die die Spätaussiedler aus dem Nösnerland in Siebenbürgen trugen, die sich seit Mitte der 60er Jahre südlich von Mainz angesiedelt hatten. Sie waren sich wie ich selbst der Tradition bewusst, aus der sie kamen. Denn nur derjenige, der bedenkt, woher etwas kommt, der kann auch angeben, wohin es führt. Und noch etwas: Er weiß auch, wo er jetzt steht, wo er hingehört. Darum: „Gedenke der vorigen Zeit!"

 

Wenn ich früher mit anderen Kindern in meinem Heimatdorf unterwegs war, wurde ich oft gefragt: „Wem gehörst du denn?" Was sollte ich sagen? „Meinem Vater und meiner Mutter" war meine Antwort. Erst dann wurde beschrieben, wo ich wohnte. Später wurde mir bewusst, dass meine Beschreibung auch ein religiöses Bekenntnis war. Im Gymnasium lernte ich das griechische Wort KYRIAKE mit der Bedeutung „dem Herrn gehörig". Darauf geht das Wort KIRCHE zurück.

 

Ich gehörte nicht nur meinem Vater und meiner Mutter im Elternhaus, sondern auch dem himmlischen Vater („Vater unser") im Gotteshaus. Mir wurde klar: Wichtigster Bestandteil für unsere Dorfgemeinschaft, soll ich gleich sagen, für die Heimat, war die Kirche. Selbst in der Politik wird heute noch damit argumentiert, man solle „die Kirche im Dorf lassen". Herausragend war der Kirchturm. Auch galt, wie wichtig es sei „ Kirchturmspolitik" zu betreiben.

 

Mir selbst hat sie später geholfen, die große Politik zu durchschauen. Nun hat für die Bewohner des Nösnerlandes der Kirchturm von Bistritz noch eine besondere Bedeutung. Er war mit seinen 75 Metern der höchste Kirchturm zwischen Wien und Istanbul. Die Weltstadt Wien mit den Türmen des katholischen Stephansdoms auf der einen Seite und die Stadt Konstantinopel, Byzanz, Hauptstadt des oströmischen Reiches auf der anderen Seite, mit der einst größten Kirche Hagia Sophia, die 1453 von den Türken eingenommen und in eine Moschee der neuen Hauptstadt Istanbul umgewandelt wurde.

 

Ja und dazwischen der evangelische Kirchturm in Bistritz in Siebenbürgen. Die Leute, die das Gefühl hatten, für andere am Rand zu liegen, hatten einen Mittelpunkt, um den sich alles drehte. Die Leute, die das Gefühl hatten, dass andere auf sie herabblickten, konnten jetzt aufblicken nach oben – und zugleich zu „dem da oben".

 

Sie erfuhren dabei: Es gibt noch etwas Höheres als die Niederungen des Alltags, einen Höheren. Es gibt noch etwas Besseres, das alles übersteigt, einen Besseren, der alle überragt. Es war der Ausdruck für das, was unten in der Kirche gepredigt wurde und die Leute zusammenhielt. Mehr noch: Kult und Kultur gehören untrennbar zusammen. In der Kirche wurzelt der kulturelle Reichtum Siebenbürgens. Seine Kirchenburgen sind in sich schon hohe Kulturgüter.

 

„Gedenke der vorigen Zeit!"

Der Kirchturm war der Mittelpunkt der Gemeinschaft. Hinzu kam, dass der Zusammenhalt auch sichtbar wurde in der gemeinsamen Kleidung, in der Tracht. Der Begriff „Tracht" kommt von Tragen. Sie ist das, was man an sich und in sich trägt. Sie wissen es ja selbst: Eine Tracht kann man nicht tragen, wann und wo man will, wie andere Kleider. Die Tracht gehört untrennbar zu einer bestimmten Landschaft, in eine abgegrenzte Gegend – nach Bayern, in die Schwalm oder nach Siebenbürgen. Sie ist Ausdruck von Gemeinsamkeit, wie heute noch die Zwillingskleidung und in gewisser Weise auch die Schulkleidung.

 

Früher sagte man: „Kleider machen Leute." Die Tracht bringt zum Ausdruck, wo man herkommt, wo man hingehört und mit wem man zusammengehört. Doch mit der Tracht umzugehen, ist eine Wissenschaft für sich. Wie viele Röcke übereinander getragen werden und welche Farben und Bänder sie haben, hat verschiedene Gründe und markieren auch diesbezügliche Unterschiede.

 

Ich zitiere eine solche Beschreibung aus Oberhessen (von Elvira Muth): „In vielen reichen Familien trugen die Frauen mehr als drei Röcke, teilweise bis zu sechs, sieben Stück. Die Frauen zeigten gern, dass sie wohlhabend waren, und das konnte man mit der Kleidung nach außen gut repräsentieren .... Durch die vielen Röcke war die Frau ganz schön dick. Aber das wiederum war ein Zeichen des Wohlstands, denn das zeugte davon, dass man genügend Geld für Stoff und zum Essen hatte. Also, dick und reich, bzw. dünn und arm. Ganz im Gegenteil zur heutigen Zeit."

 

Doch damit komme ich auch zum Kern einer Predigt. Wenn ich sagte, dass wir in der Kirche IHM gehören, von IHM kommen, zu IHM hingehen, so sollen wir als Kirchenleute auch eine entsprechende Tracht tragen, eine aus sieben Röcke und noch mit einem Überzieher, einem Mantel.

 

Im Neuen Testament steht im Kolosserbrief, Kapitel 3 (12-14): „So ziehet nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, und ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander ... über alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit." Früher sagte man, wenn man sonntags in die Kirche ging: "Dann bin ich „an", d. h. angezogen". Kirchenleute tragen aber nicht nur sonntags, sondern auch werktags 7 Röcke und einen Überzieher: Herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, Sich ertragen, Vergeben und – die Liebe. Ganz schön dick! Ganz schön reich!

 

„Gedenke der vorigen Zeit!"

Zum gemeinsamen Kirchturm und zur gemeinsamen Tracht kam als Drittes die gemeinsame Sprache, der Dialekt. Er war die Muttersprache. Hochdeutsch habe ich wie Sie als erste Fremdsprache gelernt. Wir sind, wie man so sagt, „zweisprachig" großgeworden.

 

Später lernten wir noch eine dritte Sprache hinzu: die über die anderen! Der Dialekt ist eine spezielle Sprache für einen spezielle Wohngegend und hat nur einen begrenzten Wortschatz. Man konnte damit nur ausdrücken, was im eigenen Raum geschah, mehr nicht.

 

In der sogenannten Mundart ist es anders. Sie ist ein lokal gefärbtes Hochdeutsch, etwa Frankfurterisch oder Mainzerisch. Als ich meine erste Dialektpredigt hielt, habe ich es an ei-nem Beispiel aus meiner Schulzeit verdeutlicht. Wir hatten im Gymnasium einen Aufsatz zu schreiben zum Thema: „Im Herbst". Meine Klassenkameradin schwärmte: „Der Herbst ist ein großer Maler. Mit seinem Farbenreichtum malt er in der Welt um uns herum ein buntes Gemälde. Die Fluren breiten sich vor uns aus wie ein gemusterter Teppich."

 

Das kann ich nicht in den Dialekt übersetzen. Es gab in unseren Dörfern keine Maler (höchstens „Weißbinder") und in unseren Stuben keine Gemälde (dort hingen die Konfirmationsscheine an der Wand) und erst recht keine Teppiche auf den blanken Dielen.

 

Ich beschrieb den Herbst aus der Sicht eines Dorfbewohners mit dem Hinweis: „Jetzt beginnt die Zeit, in der geerntet wird, die Kartoffeln müssen aus dem Acker und das Obst von den Bäumen." Die Note war bei Weitem nicht so gut wie bei meiner Klassenkameradin! Der Studienrat gehörte ja zu ihrer Welt und stellte bei mir „Spracharmut" fest.

 

Doch der Dialekt war dafür reich im Bezug zu IHM. Sprache wurde zum Gebet, bei uns etwa in den Formulierungen: „Ach, du liebes Gottchen ..."; „Liebes Väterchen im Himmel ..." . „Herr Jesus...". Voller Vertrauen brachten unsere Vorfahren vor ihn, was in ihnen vorging. Sie wussten sich als seine Kinder bei IHM geborgen. Ein Diplompsychologe sagte mir kürzlich: „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden."

 

Gedenke der vorigen Zeit!"

Zu gemeinsamem Kirchturm, zur gemeinsamen Tracht und zum gemeinsamem Dialekt kommt noch etwa Viertes und Letztes, das schließlich Heimat aus-macht. Man höre und staune: Der gemeinsame Tanz, der Volkstanz. Das ist weithin verdrängt worden, weil es zu den Kirchenleuten nicht zu passen schien.

 

Im CVJM wurde uns eingehämmert: „Berühre kein Mädchen, das du nicht bereit bist, zum Altar zu führen." Tanzen war solches Berühren. Unser Idol Pfarrer Johannes Busch antwortete auf die Frage, ob denn Tanzen „an sich" Sünde sei: „Tanzen Sie mal – an sich!" In der Bibel kommt „Tanz" nur drei Mal , und „tanzen" nur fünf Mal vor.

 

Doch da steht bei Jeremia (Kap. 31,3+4) unüberhörbar: „Du sollst dich wieder schmücken ... und herausgehen zum Tanz." Als Kind lernte ich das Lied: „Im Himmel, im Himmel ist Freude so viel, da tanzen die Engel und treiben ihr Spiel." Wer kann es? Versuchen wir's mal.

 

Im Volkstanz brachte man zum Ausdruck, was man in Gottes Schöpfung miterlebte. Alles „drehte" sich im Kreis. Es wurde Tag und Nacht. Die Sonne ging auf und unter. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter kamen und gingen – auch der „Kathreinerball" und der Tanz am Marientag. Die Alten starben, die Jungen wurden geboren. Die Kirchenleute glaubten, dass sich dahinter höhere Mächte um die eine Macht Gottes drehend bewegten.

 

Der Kirchenvater Augustinus sagte schon vor 1600 Jahren: „O Mensch, lerne tanzen! Sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen."

 

Ich komme zum Schluss. „Gedenke der vorigen Zeit" war mein Predigttext. Ich habe es getan mit den vier Schwerpunkten Kirchturm, Tracht, Dialekt und Volkstanz. Sie fassen das zusammen, was für mich und uns Heimat bedeutet. In Rheinhessen, wo ich meinen Dienst tat wurde es mir bewusst.

 

Dort gibt es davon nur Kirchtürme, weil es sonst keine Tradition gibt. Es sei denn der Weinbau. Der Dichter Carl Zuckmayer spricht von Rheinhessen als von einer „Völkermühle." Der Unterschied zu meiner Heimat wurde spürbar. Wurde ich gefragt, wo ich hingehöre, so habe ich geantwortet: „Hier in Rheinhessen bin ich zu Hause, in Oberhessen bin ich daheim." Diesen Satz kann ich nicht im Dialekt sagen, weil es diesen Unterschied in einer Dorfgemeinschaft nicht gibt.

 

„Gedenke der vorigen Zeit!"

Gewiss, wir beherzigen auch das Bibelwort: „Wer die Hand an den Pflug legt und blickt zurück, ist nicht geschickt zum Reich Gottes." Ich fasse Beides in dem Satz zusammen, der am Heimatmuseum meines Heimatortes steht: „Lasst uns am Alten, so weit es gut ist, halten, doch Neues bauen auf altem Grunde zu jeder Stunde".

AMEN.


Pfarrer i.R. Robert Kraft, Zornheim (früher Nieder-Olm)

Nürnberg, 8. Oktober 2011

 

→ Kurzporträt von Pfarrer i.R. Robert Kraft

→ Vortrag von Pfarrer i.R. Robert Kraft: Meine Begegnungen mit Siebenbürgern und Siebenbürgen