"Meine Begegnungen mit Siebenbürgern und Siebenbürgen"
Vortrag anläßlich unserer Mitgliederversammlung am 8. Oktober 2011 in Nürnberg.
Liebe Siebenbürger aus dem Nösnergau,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie sind in diesem Jahr zu Ihrem 18. Heimattreffen zusammengekommen, das in zweijährigem Turnus abgehalten wird. Seit der Gründung der Heimatortsgemeinschaft (HOG) Bistritz-Nösen am 14. Mai 2005 obliegt ihr die Organisation solcher Zusammenkünfte. Mehr noch, sie ist auch sonst das Bindeglied zwischen der alten und der neuen Heimat der Siebenbürger, ganz gleich, wo sie heute daheim sind oder in den verschiedensten Ländern wohnen.
Zusammen mit Heimatortsgemeinschaften (HOG) aus anderen Bezirken Siebenbürgens bildet sie das Dach, unter dem die Siebenbürger heute ihrer früheren Heimat gedenken, ihre Verbundenheit mit ihr und miteinander zu festigen und Erfahrungen auszutauschen. Aus den mir zugänglichen Unterlagen konnte ich von der HOG Bistritz-Nösen erfahren, wie vielfältig und segensreich das alles geschieht, betrieben von Persönlichkeiten wie Dr. Fritz Frank (von ihm kenne ich das Wort: „Wir Siebenbürger müssen an einem Seil ziehen, aber wohlgemerkt an demselben Ende".), Dr. Hans Georg Franchy, Studiendirektor Horst Göbbel, Dr. Michael Kroner und andere.
Dem Vorstandsvorsitzenden Dr. Franchy ist hier besonders zu danken für sein bisheriges und heutiges Engagement. Dass aus Bistritz der Stadtpfarrer Dieter Kraus, die Kuratorin Kathi Borsos, der Vorsitzende des Deutschen Forums Eckehard Zaig und sogar der Bürgermeister Teodor Ovidiu Cretu hierher gekommen sind, verleiht Ihrer Zusammenkunft einen ganz besonderen Akzent.
Und nun steht in mir einer vor Ihnen, der kein Siebenbürger Sachse ist. Ich bin eingeladen, einen Vortrag zu halten zu dem Thema: „Meine Begegnung mit Siebenbürgern und Siebenbürgen".
Als zeitlicher Rahmen wurden mir 15 Minuten genannt. Ich möchte Sie bitten, mir 20 Minuten zu gewähren, weil sonst meine Eindrücke zu sehr geschmälert würden.
Meine erste Begegnung mit Siebenbürgen geschah in der Hitlerzeit in den Schulen meiner oberhessischen Heimat. Ich hörte den Namen in Verbundenheit mit den „Volksdeutschen", die im Ausland unaufgebbares deutsches Erbe hüteten. Es war Wissensvermittlung, von der nach dem Kriegsende keine Rede mehr war. Das Nationale war zu eng mit dem Nationalsozialismus verflochten und wurde nun nicht mehr geachtet, sondern eher geächtet.
Als ich im Jahr 1960 in die Mainzer Gegend nach Nieder-Olm kam, gab es in unserem Kollegenkreis den Pfarrer Joseph Scheerer, einen Siebenbürger. Auch er wurde in die nationale Ecke gestellt, wenn er im Hinblick auf die von dort ankommenden Spätaussiedler das evangelische Deutschtum in Siebenbürgen pries. Ein Wort von ihm blieb mir unvergessen: „Wir Siebenbürger Sachsen sind wie die Gänseblümchen, klein und unauffällig, aber überall auf der Welt zu finden." Solche „Gänseblümchen" sollten wie in anderen Nachbargemeinden bald auch in meiner Nieder-Olmer Kirchengemeinde wachsen.
Im Jahr 1965 zogen zunächst einmal zwei siebenbürgische Familien zu. Sie kamen aus dem Ruhrgebiet, wo sie vorher Arbeit gefunden hatten. Ihr Heimatort war St. Georgen in Rumänien gewesen. Nach ihrer Kriegsgefangenschaft waren die Männer aber nicht in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern nach Deutschland aufgebrochen. Dort bekamen in den sechziger Jahren die Siebenbürger aus der Bistritzer Gegend durch die „Landsiedlung Rheinland-Pfalz" Nebenerwerbsgrundstücke südlich von Mainz angeboten.
Hierher folgten andere aus der alten Heimat, die Aussiedlungsanträge gestellt hatten. Verwandtschaftliche Bande, nachbarschaftliche Verbundenheit und dörfliche Beziehungen führten nun die St. Georgener – und nicht nur sie – hierher in unseren Raum nach Nieder-Olm.
So kamen in den Jahren 1965 bis 1987 insgesamt 146 Siebenbürger zu uns. Stolz auf ihr über 800 Jahre bewahrtes deutsches Volkstum, kamen sie nun in das Land ihrer Väter und mussten eine herbe Enttäuschung erleben. Hier wurden sie eingeordnet in die Reihe der ausländischen Gastarbeiter: Italiener, Griechen und Türken – nun die „Rumänier".
Heutzutage werden sie sogar noch von Unwissenden in die Reihe der Migranten gestellt. Sonntags kamen sie wie selbstverständlich als Familien mit ihren Kindern in die Kirche, was es hier bei den Katholiken noch gab, aber nicht mehr bei den Evangelischen. Die enge Anlehnung der Siebenbürger Sachsen an die Ev. Kirchengemeinde wurde beiden zum Segen.
In der Kirche wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass unsere neuen Gemeindeglieder keine „Rumänier" seien, sondern Deutsche, die nicht nur ihre nationale, sondern auch ihre evangelische Identität durch Jahrhunderte hindurch bewahrt hätten. Durch solche „Aufklärungsarbeit" gelang die Integration.
Gemeindeglieder halfen beim Besorgen von Einrichtungsgegenständen, auch beim Einkaufen in den Supermärkten, die nach Jahrzehnten der Entbehrung mit ihrem Angebotsüberfluss zur maßlosen Verführung wurden. Meine seelsorgerlichen Bemühungen als Pfarrer waren aufwändig. Bald wurde in der Gemeinde ein wenig neidisch vermerkt, die Siebenbürger seien meine Lieblinge.
Selbst bei solchen Vorgaben entsprachen die Verhaltensmuster in der Evangelischen Kirchengemeinde nicht ganz den Erwartungen unserer neuen Gemeindeglieder. Die Gottesdienste, die sie weiter treu besuchten, waren offenbar anderer Art als in Siebenbürgen. Ich bemühte mich als Pfarrer, die Predigten biblisch begründet, jedoch auch konkret, anschaulich, volksnah und der Zeit entsprechend zu halten.
Da bekam ich zu hören, bei den Pfarrern in den Gottesdiensten zu Hause sei alles ganz anders gewesen, dort hätte man „so schön weinen können." Manche Leute waren dort offenbar so bedrückt, dass sie sich durch Weinen entlasten konn-ten, wenn der Pfarrer die ent-sprechenden Worte fand. „Tränen sind Badewasser der Seele!". Ich hatte Verständnis dafür und habe solche Äußerungen in keiner Weise als Beleidigung empfunden. Unsere neuen Gemeindeglieder waren von der Kirchlichkeit ihrer alten Heimat so geprägt, dass sie sich nicht so schnell umstellen konnten.
Die Kinder der Siebenbürger Sachsen verhielten bald so wie die der Einheimischen. Sie kamen mit ihren Familien nicht mehr in die Gottesdienst. Sie passten sich auch im Alltag so schnell den neuen Verhältnissen an, dass sie nicht mehr als Siebenbürgenkinder auffielen.
Überhaupt musste man schmerzlich feststellen: Die 800-jährige Tradition der Siebenbürger war weithin innerhalb von 8 Jahren zerfallen. Erst hatten sie ihre alte Heimat aufgegeben, jetzt verloren sie in ihrem eigentlichen deutschen Vaterland ihre Kinder. Auch die „Mutter Kirche" verhielt sich „stiefmütterlich", weil sie in einer Art neuem „Zeitgeist" ihre hergebrachten Erwartungen nicht erfüllte. Dennoch hatte das Pfarrhaus hohes Ansehen.
Wenn ich als Pfarrer in ihrem Kreis Stunden verbrachte, wurde ich doch nicht gern losgelassen. Es gab ein mitgebrachtes Wort, das zitiert wurde: „Wo der Pfarrer ist, ist Segen." Und im Hinblick auf meine Frau hieß es: „Die Pfarrfrau ist die tugendsame Mutter der Gemeinde." Wer wollte schon auf den Segen des Pfarrers und die Nähe der Mutter verzichten.
Bei solchen Zusammenkünften wurde ausführlich vom kirchlichen Leben in Siebenbürgen erzählt. Bilder von der dortigen Kirche gab es in jedem Haus. Gerührt hat es mich, dass zu dem Wenigen, das sie mitnehmen durften, Bibel und Gesangbuch gehörten, für deren Anschaffung ich hier bei uns erst werben musste. Wir haben uns bemüht, das Erbe unserer Siebenbürger zu bewahren und sie gleichzeitig in die hiesigen Gegebenheiten einzuführen. Unsere Bemühungen, sich gegenseitig anzunehmen, hatten aber kaum Erfolg.
Im Kirchenchor empfand man das Liedgut als fremd. An Vortrags- und Diskussionsabenden zu theologischen, psychologischen, soziologischen oder pädagogischen Themen nahm man nicht teil. Auch die Jugendlichen waren kaum dazu zu bewegen, in die Jugendgruppe zu kommen. Anklang fand nur der Altenkreis, in dem die Siebenbürger aber eine eigene Gruppe bildeten, die allein schon da-durch sichtbar wurde, dass man immer auf festen Plätzen zusammensaß.
Die bewundernswerte Handarbeitskunst (Häkelarbeiten, Stickereien udgl.) sollte durch diesbezügliche Kurse erhalten werden. Doch es beteiligten sich nur „Einheimische", die dann auch ihr Interesse verloren. Wenige Siebenbürger wie Michael Ihm versuchten, mit Gedenktagen, Heimatabenden und selbst verfassten Theaterstücken das reiche Erbe aus ihrer Heimat zu bewahren. Zugleich engagierte sich seine Frau Sofia, geb. Schuster, viele Jahre hindurch im Kirchenvorstand für dieses Anliegen. Große Hoffnung wurde auf die „Volkstanzgruppe" gesetzt. Sie be-stand Jahre hindurch und trat nicht nur beim Erntedankfest auf, wo auch das hier unbekannte „Baumstriezel"-Backen gepflegt wurde. Doch die Alten wurden älter und bei den Jungen gab es Nachwuchsmangel.
Unsere Siebenbürger Sachsen wurden im Lauf der Zeit „bodenständig." Das kam vor allem auch durch den Bau ihrer Häuser zum Ausdruck. Eine ganze Straße wurde zu einem „sächsischen" Wohngebiet. Bei der einheimischen Bevölkerung wurde diese Bautätigkeit mit Erstaunen und Bewunderung und zugleich mit Neid und Missgunst zur Kenntnis genommen.
Ihr Fleiß hätte sie doch anspornen und mitreißen können. Nein. Weil man sich noch an ihre Tracht erinnerte, in der sie „kurz zuvor" gekommen waren, nannte man ihre Siedlung abfällig „Kopftuchsiedlung." Bei manchen Siebenbürgern war inzwischen auch ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Als ich in einem Konfirmandenjahr viele Siebenbürgenkinder hatte, regte ich an, sie bei der Konfirmation entsprechend hervorzuheben, evtl. auch in ihrer Tracht. Nur wenige waren dazu bereit. Eine Mutter verbot mir sogar, ihren Jungen in diesen Zusammenhang zu stellen. „Siebenbürgen war einmal, jetzt sind wir Nieder-Olmer!"
In einer „Gedenkveranstaltung der Siebenbürger Sachsen anlässlich der 50. Wiederkehr des Tages ihrer Flucht aus ihrer Heimat" am 5. November 1994 in Nieder-Olm habe ich die Predigt unter das Wort gestellt: „Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir." (Hebräer 13, 14).
In dem Leben und auf den Wegen der Siebenbürger Sachsen sah und sehe ich ein Abbild unser aller Unterwegsseins. Im Umgang mit ihnen ist mir die theologische Einsicht gewachsen, dass Schicksalsgläubigkeit („Wie Gott will") und eine zweite Naivität (kindliches Vertrauen) unaufgebbare Bestandteile des Glaubens sind. Weil Liturgie (Gottesdienst) und Diakonie (Dienst am Mitmenschen) zusammengehören, haben wir Hilfstransporte in die alte Heimat durchgeführt. Mir wurde bei jener Gedenkveranstaltung das Silberne Ehrenwappen der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen verliehen. Ich war und bin stolz darauf, auf diese Weise ein Stück Siebenbürgen an mir tragen zu dürfen.
Mit meiner Frau war ich im Mai 2004 auf einer Studienreise in Siebenbürgen. Jetzt erst lernten wir an Ort und Stelle all das kennen, von dem wir bis jetzt nur gehört und gelesen hatten (auch, dass die „Sachsen" wohl zu den Versprengten eines Kreuzzuges gehörten). Wir wa-ren geneigt, die Siebenbürgenhymne ( „Siebenbürgen Land des Segens ...") anzustimmen, als wir nun dem dortigen kulturellen Reichtum begegneten.
Ihn auch anderen nahe zu bringen, veranstalteten wir im Oktober 2007 eine Gruppenreise nach Siebenbürgen. Es nahmen 44 Personen daran teil, aber niemand aus dem Kreis der Siebenbürger Sachsen und ihrer Nachkommen. Wir besichtigten natürlich die bekannten Städte Herrmannstadt, damals Kulturstadt Europas, Kronstadt, Schäßburg oder Bistritz, die eindrucksvollen Kirchenburgen und andere Sehenswürdigkeiten.
Doch den stärksten Eindruck hinterließ ein Besuch in dem Ort St. Georgen im Nösnergau, aus dem unsere siebenbürgischen Gemeindeglieder in Nieder-Olm gekommen waren. Der rumänisch-orthodoxe Pfarrer ließ bei unserer Ankunft die Glocken läuten. In der Kirche, wo früher unsere deutschen, evangelischen Brüder und Schwestern gesessen hatten, hielten wir eine Andacht. Im Gedenken an sie und ihr Schicksal flossen sogar Tränen.
An gedeckten Tischen klang diese bewegende Begegnung aus, die uns fortan in unserer Heimat mit unseren Siebenbürgern noch inniger umgehen ließ. Für unsere Reisegruppe waren die siebenbürgischen Kirchenburgen Symbole für der Bewahrung des Glaubens, zur Abwehr äußerer und innerer Feinde, und zugleich der Zusammengehörigkeit in Freud und Leid.
Mit einer kurzen Bildgeschichte möchte ich schließen.
Eine Spinne, die sich von einem Ast heruntergelassen hatte, um ihr Netz zu bauen, betrachtete es zum Schluss und meinte, der Faden nach oben sei jetzt überflüssig. Sie biss ihn einfach ab. Das ganze Netz fiel in sich zusammen und erstickte sie. Das ganze „Netz" der Siebenbürger Sachsen war und ist von dem Faden nach oben, ihrem Glauben, dem Kult, gehalten. Das ganze Gebilde der anderen Fäden, ihre Kultur, wurde und wird dadurch zusammengehalten.
Diese besondere, unverwechselbare Gabe ist und bleibt für sie eine verheißungsvolle Aufgabe. In solcher Verbundenheit danke ich Ihnen im Namen vieler für diesen Reichtum, an dem Sie uns Nicht-Siebenbürger liebevoll teilnehmen ließen und lassen.
Pfarrer i.R. Robert Kraft, Zornheim (früher Nieder-Olm)
Nürnberg, 8. Oktober 2011
→ Kurzporträt Pfarrer i.R. Robert Kraft
→ Predigt von Pfarrer i.R. Robert Kraft anläßlich unserer Mitgliederversammlung am 8. Oktober 2011