Schnetzler-Ernst-SamuelHeute feiert Ernst Samuel "Sami" Zehschnetzler seinen 80. Geburtstag.
Wir gratulieren herzlich zum Freudentag.

Lebenslinien

Geboren wurde ich am 17.11.1930 in Bistritz, als letztes von acht Kindern. Meine Eltern waren Landwirte, die schwer arbeiten mussten um über die Runden zu kommen. Nach den vier Elementarklassen und der halben Untersekunda am Evangelischen Deutschen Gymnasium erfolgte im September 1944 eine dramatische Zäsur mit der Flucht vor der Roten Armee. Sie dauerte einen Monat lang bis in ein Flüchtlingslager in Aue in Sachsen.

 

Hier lernte ich zum ersten Mal das Gefühl bittersten Hungers kennen, das mich noch über viele Jahre begleiten sollte. Nach Ende des Krieges gab es im Lager anfänglich große Erleichterung beim Einzug der Amerikaner. Ihr folgte Entsetzen, als sie wieder abzogen und die Russen einmarschierten. Im Sommer 1945 erfolgte dann im Viehwaggon die Rückführung nach Bistritz, wo die Rückkehrer als „Individuen" ohne Staatsbürgerschaft unter menschenunwürdigen Bedingungen in die Schwarzenbergkaserne interniert wurden.

 

Weil ich für die verordnete Zwangsarbeit noch zu jung war, durfte ich als Tagelöhner für einen Laib Maisbrot etwas gegen den Hunger tun, um dann im März 1946 in einem Kolonialwarengeschäft in der Holzgasse eine kaufmännische Lehre zu beginnen. Nach Abschluss der Lehre im Frühjahr 1949 arbeitete ich eine Zeitlang als Holzfäller in den Wäldern bei Dorna Vatra, bevor ich von August bis November die Segelflugschule in Jaad bei Bistritz besuchte, um später Pilot werden zu können.

 

Obwohl ich die Schule mit Auszeichnung absolvierte, wurde mir als einem Deutschen ein Weiterkommen verwehrt. Anfang 1950 ging ich daher als Verkäufer zu der staatlichen Handelsorganisation „Alimentara" mit dem brennenden Wunsch, bei erster Gelegenheit „etwas anderes" zu versuchen. Schon seit meiner Kindheit schwebte mir der Gedanke vor, Deutschlehrer zu werden.

 

Im Winter 1950 ergab sich eine ungeahnte Gelegenheit zum Weiterkommen: die neu gegründete Bukarester Tageszeitung „Neuer Weg" suchte einen Regionalkorrespondenten für Nordsiebenbürgen. Ich bewarb mich - und wurde auf Probe genommen. Schon zwei Jahre später wurde ich als Redakteur in die Zentralredaktion versetzt. Bei all dem politischen Mist, den es zu bewältigen gab, machte die Arbeit einen Sinn, denn wir konnten uns als deutsche Tageszeitung für die Belange der nach dem Krieg rechtlos gewordenen Deutschen , für deutsche Sprache, deutsche Schulen, deutsche Literatur, deutsches Volksgut, die Rückgabe der enteigneten Häuser usw. einsetzen.

 

In Bukarest heiratete ich 1952 meine Bistritzer Jugendliebe Annemarie Millim. 1953 wurde unser Sohn Günther geboren. Schon 1952 hatte wieder eine der berüchtigten Säuberungsaktionen eingesetzt und ich wurde aus der Redaktion in die Verwaltung versetzt, um dann im Frühjahr 1954 ganz entlassen zu werden, weil drei meiner Brüder im „feindlichen Westen" lebten und ich daher politisch unzuverlässig war.

 

Von Mai 1954 bis Mai 1955 arbeitete ich wieder in Bistritz bei der Zentrale der Konsumgenossenschaften als Warenkundler (Merceolog), um dann zum Militärdienst eingezogen zu werden und diesen bis Ende 1956 bei den Arbeitsbrigaden am Bau und in der Landwirtschaft abzuleisten. Nach der Entlassung vom „Militär" wurde ich aufgefordert, meine Arbeit als Redakteur in Bukarest wieder aufzunehmen. Meine Frau und mein Sohn zogen daraufhin nach Bukarest, wo meine Frau als ausgebildete Bankkauffrau bei der Rumänischen Nationalbank eine Anstellung fand und mein Sohn das Deutsche Gymnasium besuchte.

 

In den folgenden Jahren ergänzte ich im Fernstudium am Bukarester Deutschen Gymnasium meine Schulausbildung mit dem Abitur und belegte 1968 den Abendkurs an der Fakultät für Germanische Sprachen der Bukarester Universität. 1973 beendete ich mit dem Staatsexamen erfolgreich mein Studium in den Fächern Deutsch und Englisch. Im Frühjahr 1974 kehrten meine Frau und ich, nach Absprache mit meinem Sohn, von einem Verwandtenbesuch bei meinen Brüdern aus der Bundesrepublik nicht mehr nach Rumänien zurück. Wir hatten diesen Schritt im Geheimen schon jahrelang geplant, weil wir das System der Lüge, der Entwürdigung des Men­schen und der Unterdrückung nicht mehr ertragen konnten und wollten. Doch jedes Mal, wenn wir zu Besuch fahren sollten, erschienen Offiziere der Securitate und drohten, dass unserem Sohn „ sehr leicht" etwas zustoßen könnte und dass man mich auch gegen meinen Willen zurückholen würde.

 

Auch diesmal blieb unser einziges Kind als Geisel zurück, doch hatten uns ähn­liche Fälle inzwischen gelehrt, dass Kinder im Zuge der Familienzusam­menführung nach ein bis zwei Jahren zu ihren Eltern ausreisen durften. Wir hatten über 18 Monate zu zittern, bis wir unseren Sohn überglücklich wieder in die Arme schließen konnten.

 

In der Bundesrepublik fanden wir zuerst in Gummersbach zur Miete und dann in Wiehl im eigenen Haus eine neue Heimat. Meine Frau fand eine Anstellung beim Oberbergischen Kreis und mein Sohn konnte sein Studium, das er in Bukarest wegen unserer Flucht hatte unterbrechen müssen, in Bonn fortsetzen. Inzwischen ist er, ebenso wie seine Frau Gerlinde, Studiendirektor an einer großen Schule im Rheinland. Ihre bezaubernden Töchter, Jutta und Hanna, studieren in Bonn, wo die Familie lebt.

 

Für mich ging ein Kindheitstraum in Erfüllung. Nach zwei weiteren Lehr­jahren als Studienreferendar an einem postuniversitären Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Wuppertal, als Foreign Language Assistent am Glasgow College of Technology in Schottland und dem Zweiten Staatsexamen wurde ich als Assessor für das Lehramt dem Eichendorff-Kolleg in Geilenkirchen bei Aachen zugewiesen.

 

Das Eichendorff-Kolleg hatte als Staatliches Institut die Aufgabe, spät ausgesiedelte Abiturien zum Erwerb der deutschen Hochschulzugangsberechtigung zu führen. Als Fachlehrer für Deutsch und Englisch durfte ich im Laufe der Jahre hunderte von Abiturienten aus Rumänien, Polen, Ungarn, der ehemaligen Sowjetunion und anderen Ländern auf diesem schwierigen Weg professionell und menschlich begleiten und mit großer Dankbarkeit feststellen, dass unter glücklichen Umständen, mit harter Arbeit und der nötigen Zielstrebigkeit sich Beruf und Berufung finden lassen. Nicht ohne subtilen Hintergrund konnte ich in der neuen Heimat auch einem Hobby nachgehen, für das man in der alten im Gefängnis oder am Kanal gelandet wäre - ich sammelte bei meinen vielen Reisen alte mechanische Schreibmaschinen. Unter den rund sechs Dutzend gibt es auch etliche Raritäten in meiner Sammlung.

 

Als einen besonderen Glücksfall in meinem Leben betrachte ich die enge Freundschaft zu dem großen siebenbürgischen Maler, Graphiker und Kunstfotografen Friedrich von Bömches, der nach seiner Flucht aus Rumänien 1978 ebenfalls in Wiehl ein neues Zuhause gefunden hatte. Die vielen Begegnungen mit ihm und seiner Kunst haben mein Leben entscheidend geprägt.

 

Im Laufe der letzten dreißig Jahre konnte ich eine Videothek und ein Verzeichnis seines vorhandenen künstlerischen Fundus erstellen, seine Medien-und Ausstellungspräsenz von über 50 Jahren dokumentieren und mehrere Beiträge über sein Leben und künstlerisches Schaffen für das bedeutende „Kürschners Handbuch der Bildenden Künstler" Deutschlands, Österreichs und der Schweiz verfassen in Gesprächen mit ihm gab ich erste Anstöße für die Schaffung einer „Friedrich von Bömches Kunstsammlung" in Wiehl.

 

Daraus entwickelte sich dann später der Gedanke zur großzügigen Spende von über 2500 Gemälden und Graphiken an das Museum Schloss Homburg, als Grundstock für die spätere Stiftung.

 

Nach über 45 Arbeitsjahren voller Höhen und Tiefen in zwei Welten darf ich heute als Oberstudienrat im Ruhestand meinen Lebensabend in Freiheit mit meiner wundervollen Familie und guten Freunden in Wiehl und Bonn verbringen.